Sektion 9: Objekt oder Werk? Für eine Wissensgeschichte der Kunst
Donnerstag, 28. März 2019, 14:00–14:30 Uhr, ZHG, Hörsaal 009
Verena Suchy, Göttingen/Gießen

Von Perlen und Monstren – Frühneuzeitliche Kunstkammerpretiosen als Träger von Natur- und Körperwissen

Groteske Perlenfiguren treten in der Schatzkunst des frühen 18. Jahrhunderts an Fürstenhöfen in ganz Europa auf, wo sie in Kunstkammern und Pretiosenkabinetten gesammelt, ausgestellt, haptisch erfasst und diskutiert wurden. Den mit 50 Exemplaren größten Bestand sammelte August der Starke in Dresden. Definitorisches Gattungsmerkmal ist, dass im Zentrum der Figuren mindestens eine unregelmäßig geformte Perle steht. Diese wurde ausgehend von assoziativen Ähnlichkeiten der äußeren Form mit anderen kostbaren Materialien (Edelmetalle, Edelsteine, Email) zu einer Kleinplastik erweitert. Hier handelt es sich um hybride Objekte, die nicht nur unterschiedlichste Materialien, sondern auch dichotome Konzepte von Kunst und Natur zur Synthese bringen. Auffallend oft ist der menschliche Körper zu sehen gegeben. Es sind aber keine Idealkörper dargestellt, sondern Körper, die in frühneuzeitlichen Wissensordnungen im Bereich der „Monstra“ verortet wurden: Die Figuren bilden bucklige Gestalten, Zwerge oder Amputierte ab, wobei die schiefrunde Form der Perlen virtuos genutzt wird, um einen Beinstumpf, eine verstümmelte Hand oder ein augenloses Gesicht vorzustellen. Goldschmiede entwickelten die Motive der Figuren also direkt aus der vom Material Perle vorgegebenen Naturform.
Die ikonografische Hinwendung zu deformierten Körpern ist untrennbar verbunden mit der Materialität der Figuren, wobei die Perle an zentraler Stelle steht. Ihr wurden in der frühneuzeitlichen, auf Traktaten antiker Autoritäten beruhenden Edelsteinallegorese metaphysische Eigenschaften zugeschrieben, die sie mit dem menschlichen Körper verbinden. Insbesondere die schiefrunde Perle wurde zudem mit Begriffen wie „barock“, „grotesk“ und „monströs“ belegt und damit sprachlich und konzeptuell in der Nähe des Monstra-Diskurses angesiedelt. Goldschmiede wussten um solche Bedeutungszuschreibungen und ließen sie – bewusst oder unterbewusst – in ihren Werkprozess einfließen. Frühneuzeitliche Wissensbestände über Perlen einerseits sowie den menschlichen Körper andererseits sind nicht nur Ausgangspunkt der künstlerischen Formfindung der Perlenfiguren, sondern bestimmen auch ihre Rezeption durch ein höfisches Publikum im Kontext des Wissens- und Erkenntnisortes der Kunstkammer. Bei den Perlenfiguren handelt es sich also um Bedeutungs- und Wissensträger, die als pretiöse Kunstwerke über ihre spezifische Materialität frühneuzeitliches Natur- und Körperwissen transportieren, generieren, (re-)produzieren und verhandeln.
Kurzbiografie Verena Suchy
2008–2016Studium der Kunstgeschichte und Ethnologie in Göttingen (Masterarbeit: „Der gefesselte Blick. Die außereuropäische Welt in allegorischen Titelgrafiken bei Dapper und Montanus“)
seit 2013Stud. und wiss. Hilfskraft an der Kunstsammlung der Universität Göttingen
2014–2015Kuratorin der Ausstellung „Schönheit. Macht. Mutterschaft. Frauenbilder von Botticelli bis Niki de Saint Phalle“ (Kunstsammlung Göttingen)
2015–2017Mitkuratorin der Ausstellung „Das unschuldige Auge. Orientbilder in der frühen Fotografie“ (Kunstsammlung Göttingen)
2016Praktikum am Grünen Gewölbe, Staatliche Kunstsammlungen Dresden
seit 2016Promotionsvorhaben in Kunstgeschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen (Arbeitstitel: „Bilder deformierter Körperlichkeit in Perlenfiguren der Frühen Neuzeit“) als Stipendiatin des GCSC
seit 2017Sprecherin der AG MuseumsKultur und Co-Sprecherin der Forschungsgruppe „Culture and Life Sciences“, Universität Gießen
2018Lehrbeauftragte am Institut für Kunstgeschichte Gießen (Seminar: „Von der Wunderkammer zum Humboldt-Forum. Eine historische Perspektive auf die Institution Museum“)
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Schatzkunst und Angewandte Kunst der Frühen Neuzeit; materielle Kultur und die Verbindung von Kunst- und Wissensgeschichte; Repräsentation von Körperlichkeit in der Kunst; Geschichte und Entwicklung des Museums; postkoloniale Kunst- und Museumsgeschichte
Publikationsauswahl
  • Die Tiermalerei im Gattungsdiskurs des 19. Jahrhunderts: Eine Sondergattung etabliert sich, in: Christian Scholl und Anne-Katrin Sors (Hgg.), Akademische Strenge und künstlerische Freiheit, Göttingen 2013, S. 241–246.
  • (Hg. mit Anne-Katrin Sors et al.) Die Englische Manier. Mezzotinto als Medium druckgrafischer Reproduktion und Innovation, Göttingen 2014.
  • „von großer Zartheit der Farben“. Heinrich Petri, die Düsseldorfer Akademie und die Göttinger Porzellanmalerei, in: Göttinger Jahrbuch 2015, Göttingen 2015, S. 89–108.
  • (mit anderen Autoren) Friedrich Frick nach Friedrich Gilly und anderen: Schloss Marienburg in Preußen, in: Marion Hilliges und Christian Scholl (Hgg.): Gilly – Weinbrenner – Schinkel, Göttingen 2016, S. 101–122.
  • (mit Manfred Luchterhandt und Lisa Roemer) Das unschuldige Auge. Orientbilder in der frühen Fotografie, Petersberg 2017.