Sektion 8: Material Agencies
Samstag, 30. März 2019, 10:15–10:45 Uhr, ZHG, Hörsaal 008
Susanne Deicher, Wismar

Tutanchamuns Ruder. Über die Bewegungskraft der Materie im Alten Ägypten

Zu den frühesten zivilisatorischen Erfindungen der Menschheit zählen, neben der Sprache und der Schrift, visuelle Modelle. Wohl erstmals im 4. Jahrtausend v. Chr. ermöglichten Modellobjekte und Techniken der Modellierung die Übermittlung visueller Informationen und die weiträumige Koordination von Planungs- und Entwurfsprozessen. Ein bis 2021 laufendes Verbundforschungsprojekt von Kunsthistorikern, Ägyptologen und Informatikern mit dem Titel „KunstModell. Für eine gemeinsame Systembeschreibung von Modellen und Kunstwerken aus dem antiken Nordostafrika“ widmet sich der Untersuchung der Frage, ob die bisher sogenannten altägyptischen „Kunstwerke“ – welche bekanntlich lange vor der Epoche der Kunst westlichen Begriffs entstanden – nicht besser als visuelle Modelle angesprochen und wissenschaftlich beschrieben werden können.
Der geplante Vortrag soll die epistemische Position von Modellen im Alten Ägypten darstellen, zunächst anhand eines aus der Grabausstattung Tutanchamuns vollständig überlieferten Sets von Schiffsmodellen und Rudern sowie zugehöriger Inschriften auf dem Sarg des Pharao. Den Inschriften zufolge ergreift der Verstorbene die Ruder, um sich und den Sarg in Bewegung zu setzen und den Tod zu überwinden. Diese textliche Bestimmung sowohl einer ganzen Reihe sorgfältig gearbeiteter hölzerner Schiffs-Modellobjekte im Grab, der hölzernen Modell-Ruder neben dem Sarg sowie der kostbaren goldenen Särge des Pharao inkl. der berühmten Mumienmaske umfasst auffälligerweise Objekte, die heute zum Teil als „Modelle“, zum Teil als „Kunstwerke“ angesprochen werden. Es ist zunächst festzustellen, dass innerhalb der altägyptischen Episteme beide Objektarten wahrscheinlich nicht unterschieden wurden. Sowohl „Modelle“ als auch „Kunstwerke“ aus dem Grab des Pharao dienten der Inszenierung eines selbsttätigen In-Bewegung-Setzens des Körpers des Verstorbenen, der in und durch eine imaginäre Bewegung als ein ewig Lebender erscheinen sollte.
Zahlreiche altägyptische Texte beschreiben eine potentielle Bewegungskraft und ein „Atmen“ der Materie, aus der sowohl die Leiber als auch der Stein, der Lehm oder das Metall, aus dem Bauwerke und gestaltete Objekte hergestellt werden, bestehen. Modelle und Modellierungsprozesse dienten im Alten Ägypten dazu, Bedingungen und Erscheinungsweise der Bewegungskraft der Materie prozesshaft ins Werk / ins Bild zu setzen.
Kurzbiografie Susanne Deicher
1979–1990Studium der Kunstgeschichte, Ägyptologie, Germanistik und Anglistik in Göttingen und Berlin
1985Erstes Staatsexamen für das Amt des Studienrats (Deutsch/Englisch)
seit 1990Wiss. Mitarbeiterin an der Faculteit Cultuurwetenschappen der Rijksuniversiteit Limburg, Maastricht
1993Promotion an der Freien Universität Berlin („Piet Mondriaan und die Protestantische Erweckungsbewegung in den Niederlanden“)
seit 1997Professorin für Kunstgeschichte an der Hochschule Wismar
seit 2006Leitung von Forschungsprojekten zur Kunst- und Wissensgeschichte Ägyptens: The Ancient Egyptian Artist / Spolienpraxis im m.a. Kairo / Art and Design History in Southern Egypt / Models in Ancient Egypt: Objects of Ancient Knowledge / KunstModell
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Kunst und Gestaltung des 20. Jh.s in den Niederlanden; Kunst- und Wissensgeschichte des Alten Ägypten
Publikationsauswahl
  • Piet Mondrian. Protestantismus und Modernität, Berlin 1994.
  • Piet Mondrian 1872–1944. Konstruktion über dem Leeren, Köln 1995.
  • (Hg. mit Erik Maroko) Die Liste. Ordnungen von Dingen und Menschen in Ägypten, Berlin 2015.
  • Zunehmend intensiv. Piet Mondrians Kunstgeschichte der Farbe, in: Ortrud Westheider (Hg.), Piet Mondrian. Farbe, Hamburg 2014, S. 35–52.
  • Wissenschaftliche Poiesis. Josef Strzygoswskis Kairoer Katalog und sein Gebrauch der Liste, in: Magdalena Dlugosz et al. (Hgg.), Von Biala nach Wien. Josef Strzygowski und die Kunstwissenschaften, Wien 2015, S. 378–435.