Sektion 9: Objekt oder Werk? Für eine Wissensgeschichte der Kunst
Donnerstag, 28. März 2019, 9:30–10:00 Uhr, ZHG, Hörsaal 009
Vera Wolff, Zürich

„Oil on canvas“ oder japanische Kunst nach 1945. Für eine Geschichte und Kritik des „material turn“

Als eine der wenigen Beispiele einer „nichtwestlichen“ Avantgarde genießt die 1954 gegründete japanische Künstlergruppe Gutai in den USA und Europa heute nahezu legendären Status. Vor allem die aufsehenerregenden Performances der Gruppe genießen hohe Wertschätzung. Von der Forschung ist die Ästhetik des Formlosen, Ephemeren und Prozessualen, die für die Werke der Gutai-Gruppe charakteristisch ist, mit in Japan lange tradierten Praktiken wie der Teezeremonie oder volkstümlichen Materialpraktiken in Verbindung gebracht worden. Dagegen gilt die Malerei der japanischen Künstlergruppe, weil sie dem Informel oder dem Abstrakten Expressionismus formal immer viel zu ähnlich schien, als vergleichsweise uninteressant. Und obwohl es sich bei den Gemälden fast nie um „Öl auf Leinwand“ handelt, findet sich die Angabe „oil on canvas“, die bis heute als Synonym für Malerei fungiert, noch immer in vielen Ausstellungen und Katalogen. Damit wird verdeckt, dass die Gutai-Gruppe ihre Materialien bewusst entgegen bestimmter, häufig national kodierter Verwendungstraditionen und ikonografischer Zuschreibungen ans Material eingesetzt hat. Aber offenbar hat weder die jüngste Aufwertung der lange verdrängten Materialität der Künste noch die Popularität der neuen Materialismen, die viel von Materialität schlechthin und vom Zauber materialästhetischer Konzepte und nur wenig von spezifischen künstlerischen Techniken und deren Bedeutungsgeschichte wissen, der althergebrachten Praxis etwas anhaben können.
Vor diesem Hintergrund unternimmt mein Vortrag eine wissenshistorisch informierte Analyse exemplarischer Werke der Gutai-Gruppe und der Bedeutung ihrer knapp zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlichten Forderung nach der „Rache“ und dem „Leben“ des Materials. Angesichts der Tatsache, dass die Geschichte der japanischen Kunst auch eine Geschichte der kulturellen Übersetzung künstlerischer Techniken und Materialien ist, schlage ich vor, materialästhetische Konzepte und Experimente wie die der Gutai-Gruppe radikal zu historisieren. Für eine sich als transnational oder transkulturell verstehende Kunstgeschichte wird sich die Kategorie des Materials und die Analyse der „Zirkulation“ von Materialien und Techniken nur dann als ertragreich erweisen können, wenn sie den konkreten historischen, ökonomischen und politischen Kontexten, in denen solche Experimente ihre Bedeutung entfalteten, neue Beachtung schenkt.
Kurzbiografie Vera Wolff
2011–2013 Mitarbeiterin des NFS Bildkritik eikones (Universität Basel) im Modul „Wahrnehmung, implizites Bildwissen und Erkenntnis“
2012 Promotion an der Universität Hamburg („Die Rache des Materials. Eine andere Geschichte des Japonismus“)
2014/15Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien
2015–2016 Mitarbeiterin des NFS Bildkritik eikones (Universität Basel) im Modul „Augenarbeit“
seit 2015 assoziiertes Mitglied im Zentrum Geschichte des Wissens (ZGW) der ETH und der Universität Zürich
seit 2016Habilitationsstipendium des Schweizerischen Nationalfonds (Projekt über das Verhältnis der bildenden Kunst zur Wissenschafts- und Technikgeschichte des Kalten Krieges)
seit 2017Oberassistentin an der Professur für Wissenschaftsforschung der ETH Zürich
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Kunst- und Wissensgeschichte der Moderne und Gegenwart im globalen Kontext; Geschichte und Theorie kultureller Übersetzungsprozesse; Verhältnis von Wissenschaft, Industrie und Kunst; Wahrnehmungsgeschichte; Materialikonografie
Publikationsauswahl
  • (Hg. mit Dietmar Rübel und Monika Wagner) Materialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, Berlin 2005 (2. Aufl. 2017).
  • Lackflüsse. Willi Baumeisters und Oskar Schlemmers japonistische Materialästhetik aus der Lackfabrik, 1937–1944, in: K. Espahangizi und B. Orland (Hgg.), Stoffe in Bewegung. Beiträge zur Wissensgeschichte der materiellen Welt, Zürich 2014, S. 257–274.
  • Die Rache des Materials. Eine andere Geschichte des Japonismus, Zürich, Berlin 2015.
  • (Hg. mit Kathrin Rottmann) Kunst, Arbeit und Industrie anno 2016, kritische berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften 44.3 (2016).
  • Der japanische Steingarten und die globalisierte Welt. Isamu Noguchis Arbeiten in Paris, New York, Los Angeles und auf Shikoku, in: Michael Friedrich und Monika Wagner (Hgg.), Steine: Kulturelle Praktiken des Materialtransfers, Berlin 2017, S. 81–97.