Sektion 1: Zur Dinglichkeit des Codex in Mittelalter und Früher Neuzeit
Donnerstag, 28. März 2019, 14:45–15:15 Uhr, ZHG, Hörsaal 104
Sabine Utz, Genf

Neues Prestige für Prudentius? Verbildlichung der Autorität in einer spätkarolingischen Prachthandschrift (Burgerbibliothek, Cod. 264)

Die Gedichte des spätantiken Autors Prudentius sind im Mittelalter als moralisch-didaktischer Text in monastischen Kontexten weit verbreitet. Als solche sind sie meist in einfachen, ungeschmückten Handschriften aufbewahrt. In der Berner Prudentius-Handschrift (Burgerbibliothek, Cod. 264), die gegen Ende des 9. Jahrhunderts in der Bodensee-Gegend gefertigt wurde, trifft der Leser hingegen auf ein ganz anderes Bild: Der Kodex ist geschmückt mit Initial-Zierseiten in Gold, Silber und Purpur sowie mit zahlreichen Initialen und drei eindrücklichen figurativen Zyklen.
Diese besondere Gestaltung des Prudentius verschafft dem Codex nicht nur zusätzliche Pracht. Im Vortrag möchte ich untersuchen, wie die formalen Qualitäten der verschiedenen Bilder und Ornamente den Status der Handschrift beeinflussen, indem sie eine Vielfalt von visuellen Zusammenhängen mit Objekten herstellen, die für ein karolingisches Publikum besondere Autorität ausstrahlen. Einerseits wird die Zugehörigkeit der Prudentius-Handschrift zu einer spätantiken Tradition und zur Kategorie der wissenschaftlichen Codices verbildlicht und dadurch die inhärente Autorität des Textes verstärkt. Anderseits wird aber die Berner Handschrift durch ihren Schmuck einer ganz anderen Kategorie von Objekten angenähert: Durch formale Verknüpfungen mit liturgischen Handschriften, insbesondere mit der Bibel selbst, wird die christliche Legitimität des Textes erhöht. Diese sakralen Anspielungen werden ferner durch Bezüge zum Medium der Wandmalerei verstärkt.
Die Überlagerung von visuellen Assoziationen verleiht dem nicht-liturgischen Codex eine deutlich effizientere Autorität als didaktisches Lehrmittel. Mit seiner einzigartigen Illumination kann der Bernensis aber auch als Prestigeobjekt für ein gelehrtes, elitäres Publikum gewirkt haben. Das Zusammenwirken von einem christlich-moralischen Inhalt, der in der karolingischen Kultur hoch angesehen wurde, mit einem so anspruchsvollen und autoritativen Layout ergibt eine ideale Kombination für eine Gabe, die damit sowohl auf den Auftraggeber wie auf den Empfänger positiv wirken kann. Die materielle Analyse des Codex lässt sogar vermuten, dass er noch vor der Jahrtausendwende zweimal als eine solche Gabe funktioniert hat.
Kurzbiografie Sabine Utz
2004–2011Studium der Kunstgeschichte, Englischen und Französischen Literatur in Lausanne und York, Spezialisierung in Mittelalterlicher Kunstgeschichte und Regionaler Kunstgeschichte (Denkmalpflege)
2011–2013Wiss. Mitarbeiterin im Schweizerischen National Museum, Château de Prangins
2011–2013Wiss. Mitarbeiterin im Musée cantonal d’archéologie et d’histoire, Lausanne
seit 2013diplomierte Assistentin für Mittelalterliche Kunstgeschichte an der Université de Genève
seit 2014Promotionsstudium an der Université de Genève („Le Prudence de Berne et la culture artistique de la région du lac de Constance vers 900“)
seit 2014Wiss. Redakteurin der Zeitschrift Kunst + Architektur in der Schweiz
2017–2018Stipendiatin des Schweizerischen Nationalfonds für Förderung der wiss. Forschung (doc.mobility) für je 6 Monate Forschung an den Universitäten Princeton und Köln
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Karolingische Kunst; mittelalterliche Buchmalerei; ottonische Kunst; schweizerische Denkmalpflege
Publikationsauswahl
  • Reprise et réinvention des manuscrits antiques à l’époque carolingienne: l’exemple du Prudence de Berne, in: J.-C. Mühlethaler (Hg.), Actualiser le passé: figures antiques au Moyen Âge et à la Renaissance, Lausanne 2012, S. 33–46.
  • Évêque ou saint: Cuthbert au service du pragmatisme, étude de cas, in: N. Bocket al. (Hgg.), Identité et mémoire: l’évêque, l’image et la mort (Études lausannoises d’histoire de l’art 16), Rom 2014, S. 481–494.
  • Dans la gueule du lion: les appliques en bronze de Notre-Dame de Lausanne, in: Claire Huguenin (Hg.), Déclinaisons gothiques. Le portail Montfalcon de la cathédrale de Lausanne, Lausanne 2017, S. 38–43.
  • Hétérogénéité stylistique et production artistique dans la région du lac de Constance vers 900, in: Cahiers archéologiques 56 (2018), S. 105–124.
  • The Master of the Bern Psychomachia: Reconstructing an Artistic Personality in the Late Ninth Century, in: B. Kitzinger und J. O’Driscoll (Hgg.), After the Carolingians: Re-defining Manuscript Illumination in the 10th–11th Centuries, erscheint 2019.