Arbeitskreis Kunstgeschichte und Bildung
Mittwoch, 27. März 2019, 16:15–16:35 Uhr, ZHG, Hörsaal 105
Anne Bantelmann-Betz, Wiesbaden / Nikolas Werner Jacobs, München

Historismus – noch Fragen? Zwei Wiesbadener Initiativen „zu den Dingen“ einer nur scheinbar „ausgeforschten“ Epoche

Der Historismus ist – 50 Jahre nach dem Erscheinen der ersten Bände der epochalen „Ringstraßen“-Buchreihe – anscheinend erfolgreich „erledigt“. Er wird allgemein geliebt, flächendeckend geschützt und als Trittstein auf dem Weg zur Moderne weitgehend akzeptiert. Kölner Dom und Hamburger Hafencity sind Welterbe, Wallots Reichstag ist täglich in den Medien. Alles gesagt?
In Wiesbaden (und nicht nur dort) wird seit Kurzem verstärkt diskutiert, dass man von und mit den „Objekten“ des Historismus noch jede Menge „Lehren und Lernen“ kann. Die ehemalige „Weltkurstadt“ des 19. Jahrhunderts versteht sich seit einer Initialzündung Gottfried Kiesows als „Stadt des Historismus“. In diesem Jahr sind dort zwei Initiativen gestartet, welche die Befragung dieser Epoche beleben wollen: Ein neuer Förderverein hat den Aufbau eines Zentrums für die Historismusforschung zum Ziel und an der Hochschule Rhein-Main soll künftig im Studiengang „Baukulturerbe B. Sc.“ der europäisch bedeutende Denkmälerbestand von Villen des Historismus in Wiesbaden zum Gegenstand forschenden Lehrens und Lernens werden.
Im Sinne der Faro-Konvention und der Frage, wem Denkmale gehören, wer sie rezipiert und bewertet, erscheint die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den „Dingen“ dieser Epoche von neuer Aktualität. Denn gerade das historistische Erbe war und ist einem starken Rezeptionswandel unterworfen: Galt es einst der Moderne als Sinnbild für alles Reaktionäre der Kaiserzeit, wurde es im Zuge von 1968 von einer jungen Generation als qualitativer Stadtraum wiederentdeckt und geschützt. Auch heute noch lösen diese Bauten starke Emotionen aus, wie erst jüngst etwa der öffentlich geäußerte Phantomschmerz beim Abriss des sog. Immerather Doms zugunsten des Braunkohlentagebaus Garzweiler II belegte. In den „Dingen“ des 19. Jahrhunderts stecken demnach noch Energien, die es verdienen, wieder stärker öffentlich und wissenschaftlich diskutiert zu werden, besonders im Hinblick auf aktuelle Fragen nach Identitätsbildung, „Heimat“ und Shared Heritage.
Am Beispiel Wiesbadens soll gezeigt werden, dass weder das wissenschaftliche noch das emotionale Potential dieser Epoche und ihrer vielfältigen Zeugnisse bisher ausgeschöpft zu sein scheinen. Ein überregionales Forum für den Austausch der bisher zerstreuten Diskussionen über den Historismus zu schaffen erscheint deshalb als lohnende Zukunftsaufgabe.
Kurzbiografie Anne Bantelmann-Betz
1999–2006Studium der Kunstgeschichte, Neueren Geschichte und Teilgebieten der Wirtschaftswissenschaften in Berlin und Pisa
2006–2014Wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl Denkmalpflege der BTU Cottbus
2011Promotion an der BTU Cottbus
2014–2017Wiss. Mitarbeiterin im Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart
seit 2017Professorin für Denkmalpflege an der Hochschule RheinMain
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Englische Architekturgeschichte des 18. bis frühen 20. Jh.s; Denkmalpflegetheorie des 19. und 20. Jh.s; britische Landhäuser; Wiederaufbau und Rekonstruktion in der Architektur; deutsche Architekturgeschichte und Denkmalpflege des 19. Jh.s
Publikationsauswahl
  • (Hg. mit Leo Schmidt) Forschen, Bauen und Erhalten. Jahrbuch 2012/13, Berlin/Bonn 2013.
  • Historische Wiederaufbauten Englischer Landhäuser. Der denkmalpflegerische Umgang mit klassischen Landhäusern nach Bränden, 1875–1914, Berlin 2013.
  • Art. „Kingston, George“, „Knowles, James Thomas“, „Knowles, Sir James Thomas“; in: De Gruyter Allgemeines Künstlerlexikon. Die Bildenden Künstler aller Zeiten und Völker Bde. 80/81, Berlin/Boston 2013.
  • Bericht zur internationalen Fachtagung „Zwischen Heilung und Zerstreuung – Kurgärten und Kurparks in Europa“ in Baden-Baden, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg 44, Nr. 3/2015, S. 181 f.
Kurzbiografie Nikolas Werner Jacobs
2011–2013Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und Geschichte in Mainz (Bachelorarbeit: „Stil und Historizität. Philipp Hoffmanns Gotikrezeption und ihre Bedeutung für sein baukünstlerisches Werk“)
2012–2013Stud. Hilfskraft am Institut für Kunstgeschichte der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz
2013Wiss. Hilfskraft im DFG-Forschungsprojekt „METACULT – Kulturtransfer in Architektur und Stadtplanung – Straßburg 1830–1940“
2013–2015Studium der Kunst- und Literaturwissenschaft im Elitenetzwerk Bayern (Masterarbeit: „Jawlenskys Maskerade. Entstehung, Entwicklung und Bedeutung der figuralen Werke von Alexej von Jawlensky 1909–13“)
2014Erasmus-Studium in den Fächern Literatur- und Filmwissenschaft in London
2015Heinrich-Wölfflin-Preis des Freundeskreis des Institutes für Kunstgeschichte der LMU München
2013–2016Studium der Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft in München (Bachelorarbeit: „Wandel durch Kontinuität. Die Umdeutung der Politischen Ikonographie in der Nachkriegszeit am Beispiel des Münchner Siegestors“)
seit 2016Promotion an der LMU München („Ikonographien der Legitimation. Studien zu den Ursprüngen und Narrativen politischer Bildlichkeit von Spitzenpolitikern in der Bundesrepublik“), gefördert von der Gerda Henkel Stiftung und der Studienstiftung
seit 2018Gründungsmitglied und 1. Vorsitzender des Fördervereins Deutsches Forschungszentrum Historismus e.V.
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Architektur(-theorie) und Kunst des Historismus; deutsche Malerei des 19. Jh.s; politische Ikonografie und Theorie der Moderne; Geschichte und Theorie der deutschen Avantgarden 1900–1930; abstrakte Nachkriegskunst (bes. Informel) in Deutschland und den USA
Publikationsauswahl
  • Nanna in der Semperoper. Ferdinand Kellers Theatervorhang für Dresden, in: Peter Forster (Hg.), Nanna. Anselm Feuerbachs Elixier einer Leidenschaft, Ausstellungskat. Museum Wiesbaden und Kunsthalle Hamburg, Petersberg 2013, S. 230–235.
  • Stil und Historizität. Philipp Hoffmanns Gotikrezeption und ihre Bedeutung für sein baukünstlerisches Werk, in: Nassauische Annalen 125 (2014), S. 185–225.
  • Knaus, Leibl, Anonymus? Das Rätsel um den Urheber des Portraits einer älteren Bäuerin, in: Peter Forster (Hg.), Aus dem Neunzehnten. Von Schadow bis Schuch, Ausstellungskat. Museum Wiesbaden, Petersberg 2015, S. 246–249.
  • Die „Stadt des Historismus“ – ein Sonderfall. Zur Rezeptionsgeschichte des Historismus in Deutschland am Beispiel Wiesbaden, in: Tobias Möllmer (Hg.), Stil und Charakter, Basel 2015, S. 372–385.
  • The Legitimate Heir: Jawlensky’s Self-Portraits as a Painted Genealogy of the Artist in Dialogue with Velázquez and Cézanne, in: Michael F. Zimmermann (Hg.), Dialogical Imaginations, Zürich 2018.