Sektion 5: Provenienzen der Dinge. Zur Rezeption von Objektbiografien
Samstag, 30. März 2019, 14:45–15:15 Uhr, ZHG, Hörsaal 105
Antoinette Maget Dominicé, München

Erinnerungsdimension Kulturgüter im kollektiven Gedächtnis

Immer öfter wird in die Diskussion um die Provenienzforschung der Begriff der Identität eingebracht, eine Tendenz, die sich auch in den einsehbaren Vereinbarungen zur Beilegung von Rückgabeansprüchen bemerken lässt, und die die identitätsstiftende Rolle der Kulturgüter hervorhebt. Besonders zu beachten ist die wiederkehrende Betonung der Identifizierung aller beteiligten Parteien zu diesen Objekten. Ursprünglichen Eigentümer/-innen und „aktuellen“ Besitzer/-innen wird dadurch ein haltbarer Bezug zum Objekt zugesprochen. Es fällt z. B. dabei auf, wie im Kap. II Art. 2 der Vereinbarung zwischen dem Kanton St. Gallen und dem Katholischen Konfessionsteil des Kantons St. Gallen einerseits, sowie dem Kanton Zürich, der Stadt Zürich und der Stiftung Zentralbibliothek Zürich andererseits, betreffend die abschließende Beilegung des Kulturgüterstreits zwischen St. Gallen und Zürich vom 27. April 2006, in der St. Galler und Zürcher Beteiligte an dem über 300 Jahre dauernden sogenannten „Kulturgüterstreit“ sich der Anerkennung einerseits der Identitätsrelevanz für eine Einrichtung und eine Region, und anderseits dem Beitrag zur kulturellen Bedeutung einer Institution verpflichtet haben. Somit wurden den Handschriften und Globen durch ihre Provenienz, ihre Erwerbsgeschichte und ihre wissenschaftliche sowie juristische Bearbeitung eine zusätzliche Dimension zugesprochen, die fest in einem rechtlich bindenden Text verankert wurde, der Geschichte der einzelnen Objekte hinzugefügt und musealisch kommuniziert wurde sowie einen Einfluss auf deren gesamtes Verständnis und Wert hat.
Der vorgeschlagene Vortrag mag anhand von ausgewählten Beispielen den Beitrag der Provenienzforschung zum Aufbau einer neuen Erinnerungs- und Gedächtnisdimension der Kulturgüter kritisch hinterfragen. Es wird untersucht, ob diese Objekte zu dauerhaften Trägern der Erinnerung werden können, die die Eigenschaften der lieux de mémoire nach Pierre Nora bündeln und ob diese Merkmale zeitlich und örtlich eingeschränkt sind. Dabei wird empirisch geprüft, ob eine verstärkte Integration in das von Maurice Halbwachs beschriebene kollektive Gedächtnis einen Untergang hemmen könnte, ob die materielle Rückgabe ein grundlegendes Kriterium der Erinnerung ist und ob eine Erweiterung der Provenienzforschung auf alle Sammlungsgegenstände stärkend wirken könnte.
Kurzbiografie Antoinette Maget Dominicé
2008Promotion in der Rechtswissenschaft an der Université Paris-Sud und der Kunstgeschichte an der KU Eichstädt-Ingolstadt („Collectionnisme public et conscience patrimoniale. Les collections d’antiquités égyptiennes en Europe“)
2011–2013Wiss. Mitarbeiterin beim Centre d’études pour la coopération juridique (2011), an der Université Paris 13 (2012), bei der Association des vieilles maisons françaises (2012–2013) und am Institut national du patrimoine (2012–2013)
2013–2018Oberassistentin bei den Grundlagenfächern an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern
seit 2018Juniorprofessorin für Werte von Kulturgütern und Provenienzforschung am Institut für Kunstgeschichte der LMU München
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Materielle und immaterielle Botschaften von Kulturgütern und Einrichtungen; Entkolonialisierung von Gedächtnisinstitutionen; Kulturgüterschutz und -transfer; Sammlungsgeschichte / private und staatliche Sammeltätigkeit; Kulturdatenschutz
Publikationsauswahl
  • Res sacrae in Sammlungen. „Sind Götter auch ein menschlich Eigenthum?“, in: Matthias Weller et al. (Hgg.), Neue Kunst – Neues Recht, 7. Heidelberger Kunstrechtstage (Schriften zum Kunst- und Kulturrecht 18), Baden 2014, S. 39–54.
  • Collectionnisme public et conscience patrimoniale. Les collections d’antiquités égyptiennes en Europe, Paris 2009.
  • Refuge d’œuvres (Safe Haven), in: Marie Cornu et al. (dir.), Dictionnaire critique des communs, Paris 2017, S. 1041–1045.
  • Archäologische Kulturgüter in der Schweiz: Eigentums- und Handelsverhältnisse, in: Udo Recker und Dimitrij Davydov (Hgg.), Archäologie und Recht II. Wohin mit dem Bodendenkmal? (Landesamt für Denkmalpflege Hessen), Wiesbaden 2018, S. 145–150.