Sektion 7: Zeichnungsforschung im digitalen Zeitalter
Samstag, 30. März 2019, 14:00–14:30 Uhr, ZHG, Hörsaal 104
Thomas Ketelsen, Köln

Digitale Bilder und kunsthistorisches Wissen: Top-down-Design versus Bottom-up-Fähigkeiten

Wird der rasant wachsende Kompetenzzuwachs künstlicher Intelligenz dazu führen, dass Standardaufgaben kunsthistorischer Arbeit, wie etwa die stilistische Einordnung von Zeichnungen nach Jahrhunderten, nach Schulen oder gar ihre konkrete Zuschreibung an Künstler in absehbarer Zeit von Datenbanken übernommen werden? Operationen des Sammelns, Sortierens und Aufbereitens großer Datenmengen, wie sie etwa in der Literaturwissenschaft bei der Textanalyse zur Anwendung kommen, existieren für die Zeichnungswissenschaft bislang nicht. Im Umgang mit Altmeisterzeichnungen und deren Digitalisierung stellt sich die Frage, wie sich die mediale Verfügbarkeit des Bildmaterials zu der traditionellen kennerschaftlichen Methode verhält. Hierbei gilt es zu bedenken, welche Parameter der digitalen Erschließung und Bereitstellung zum Tragen kommen und welche Auswirkung die wissenschaftliche Auswertung der Bilddaten wiederum auf diese Parameter besitzen (müssen). So bedarf das Suchen selbst methodischer Vergewisserungen, um das unbekannte Gesuchte überhaupt zu finden. Zur anschaulichen Vertiefung dieser Fragestellung werden beispielhaft zwei italienische Künstler des 17. Jahrhunderts (Giulio Cesare Bedeschini, Girolamo Troppa) herangezogen, deren zeichnerisches Werk jeweils mithilfe von Datenbanken erstmals rekonstruiert werden konnte. Diese „case studies“ verdeutlichen die Verschiebungen im Wissensstand vor und nach den Erhebungen und behandeln die Frage nach dem Geltungsanspruch der primär kennerschaftlichen Methodik für die kunsthistorische Erfassung von Zeichnungen.
Darüber hinaus ist durch die Digitalisierung die Möglichkeit gegeben, die kennerschaftliche Methode der Zuschreibung durch den Blick auf eine „Pragmatik“ der Zeichenkunst, die auch alle scheinbar nebensächlichen Formen der zeichnerischen Praxis umfasst (Kopie, Abklatsch, Pause, Cut-and-paste-Zeichnungen, „Kritzeleien“ etc.) zu ergänzen. Denn auch diese Marginalien der Zeichenpraxis werden in den Datenbanken großer Zeichnungsammlungen (Louvre, British Museum) selbstverständlich mit erfasst. Indem sie die Rekonstruktion der alltäglichen Zeichenpraxis erlauben, eröffnen sie auch für die Kennerschaft neue Fragestellungen, die letztlich zu einer Neuausrichtung der Zeichnungsforschung führen können.
Kurzbiografie Thomas Ketelsen
1990–1992Wiss. Volontär an den Staatlichen Museen Kassel
1993–2000Wiss. Mitarbeiter an der Hamburger Kunsthalle (u. a. Getty-Projekt zum dt. Kunsthandel im 18. Jh.; Bestandskatalog der niederländischen Gemälde)
2000–2010Kurator der niederländischen Zeichnungen im Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden
2010–2018Leiter der Graphischen Sammlung im Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud
seit 2018Leiter eines Forschungsprojektes zu den niederländischen Zeichnungen in der Klassik Stiftung Weimar
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Niederländische und italienische Zeichungen; Kunsttheorie und Sammlungsgeschichte
Publikationsauswahl
  • (Hg. mit Oliver Hahn und Petra Kuhlmann) Zeichnen im Zeitalter Breughels. Die niederländischen Zeichnungen des 16. Jahrhunderts im Dresdner Kupferstich-Kabinett – eine Typologie, Köln 2011.
  • Die Klecksographie. Zwischen Fingerübung und Seelenschau, Ausstellungskat. Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln 2013.
  • Die Zeichnungen des Giulio Cesare Bedeschini. Schätze aus der Jesuitensammlung I., Ausstellungskat. Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln 2014.
  • (Hg. mit Stefan Grohé) Wallrafs Erbe. Ein Bürger rettet Köln, Ausstellungskat. Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln 2018.
  • (Hg. mit Martin Schuster) Carl Heinrich von Heineken in Dresden und Altdöbern, Dresden 2018.