Samstag, 26. März 2022, 9:00–13:00 Uhr, K2, Hörsaal 17.01

Semantiken der Form

Leitung: Daniela Bohde, Stuttgart / Joris Corin Heyder, Tübingen

Wie „lesen“ wir Formen? Wovon „sprechen“ visuelle Artefakte? Wer die Bedeutungsgehalte der Form adressieren möchte, weicht häufig auf Metaphern des Lesens und Sprechens aus. Für das Aufdecken der semantischen Potentiale visueller Formen hat die Kunstgeschichte bislang aber keine anerkannte Methode entwickelt.

Zwar verfügen wir über ausdifferenzierte Methoden für die Auslegung von Motiven, doch eine Übertragung auf die Form hat sich als problematisch erwiesen, wie sich beispielsweise an der Farbikonografie zeigt. Ein produktiveres Modell bietet womöglich die Materialikonografie, die nicht nur Semantiken der Form adressiert, sondern zugleich den vom aristotelischen Hylemorphismus geprägten Formbegriff hinterfragt.

Eine ikonografischen Ansätzen vermeintlich entgegengesetzte Art, Formen auf ihre Aussagekraft zu befragen, bietet die Kennerschaft. Sie fragt nicht nach der symbolischen Bedeutung der Form, sondern versteht sie als Träger einer Spur, der Spur der Künstlerin oder des Künstlers. Im Bestreben, eine „Handschrift“ zu lesen, hat die Kennerschaft Verfahren entwickelt, Formen zu vergleichen, zu beschreiben und zu kategorisieren. Wir möchten in dieser Sektion danach fragen, was für ein Formbegriff der kennerschaftlichen Analyse zugrunde liegt und welchen Fluktuationen er unterlag. Hierbei interessiert uns sowohl die Geschichte des Blicks auf die Form als auch neuere Ansätze der Kennerschaft, die vor allem die materiellen Spuren der künstlerischen Produktion untersuchen. Da Form weitaus mehr ist als ein Produkt, soll ein weiterer Schwerpunkt der Performanz von Formen gewidmet sein. Wie werden beispielsweise semantische Verdichtungen einzelner Linien in interkultureller Perspektive diskutiert? Welche historischen Modelle von Semantisierung stehen uns zur Verfügung, wenn wir Formfragen in der vormodernen Kunst untersuchen, also vor der Ausprägung des kunsthistorischen Formbegriffs um 1900? Die Auseinandersetzung mit der Rhetorik könnte einen ebenso produktiven Beitrag zur besseren Beschreibung von Semantiken der Form leisten wie etwa die Aufarbeitung kennerschaftlicher Visualisierungsstrategien.

Kurzbiografie Daniela Bohde
1999 Promotion an der Universität Hamburg („Haut, Fleisch und Farbe. Körperlichkeit und Materialität in den Gemälden Tizians“)
2009Habilitation an der Universität Frankfurt („Kunstgeschichte als physiognomische Wissenschaft. Eine Denkfigur in der deutschsprachigen kunsthistorischen Literatur zwischen 1920 und 1950“)
2010–2011Samuel H. Kress Senior Fellowship am Center for Advanced Study in the Visual Arts (CASVA) an der National Gallery of Art, Washington DC, USA mit dem Projekt „Disarray on Calvary“
2011–2015kontinuierliche Lehrstuhlvertretungen an der Universität Basel, der Philipps-Universität Marburg und der Ludwig-Maximilians-Universität München
seit 2015Professorin für Kunstgeschichte der Vormoderne (bis 1800) und Leitung des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Stuttgart
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Bildkünste des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit; Gender- und Körpergeschichte (Anatomie, Haut, Inkarnat ...); medien- und materialhistorische Fragen, aktuell vor allem zur Zeichnung; Geschichte der kunsthistorischen Methodik, u. a. in der NS-Zeit; Darstellungsfragen der Passion Christi
Publikationsauswahl
  • (Hg. mit Alessandro Nova, unter Mitarbeit von Anna Christina Schütz) Jenseits des disegno. Die Entstehung selbstständiger Zeichnungen in Deutschland und Italien im 15. und 16. Jahrhundert, Petersberg 2018.
  • (mit Anna Christina Schütz und Irene Brückle) Körper im Helldunkel. Baldungs Imaginationen von Frauenleibern, in: Holger Jacob-Friesen und Oliver Jehle: Hans Baldung Grien. Neue Perspektiven auf sein Werk, Berlin/München 2019, S. 204–217.
  • Mary Magdalene at the Foot of the Cross: Iconography and the Semantics of Place, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz LXI (2019), Heft 1, S. 2–43.
  • Der Topos der ‚expressiven Linie‘ und die zeichnerischen Strategien von Wolf Huber und Albrecht Altdorfer, in: Jiří Fajt und Susanne Jaeger (Hgg.): Das Expressive in der Kunst 1500–1550. Albrecht Altdorfer und seine Zeitgenossen, Berlin 2018, S. 25–41.
  • Die künstlerische Handschrift als Ausdruck des Charakters? Die scheinbare Kontinuität eines Topos’: Giorgio Vasaris maniera – Roger de Piles’ caractères – Wilhelm Fraengers Formpsychogramme, in: Fabian Jonietz und Alessandro Nova (Hgg.): Vasari als Paradigma, Venedig 2016, S. 67–78.
Kurzbiografie Joris Corin Heyder
2001–2009Studium der Kunstgeschichte, Neueren Deutschen Literatur und Philosophie in Berlin und Paris
2017Promotion an der Freien Universität Berlin („Simon Bening und die Kunst der Wiederholung“)
seit 2020Wiss. Assistent an der Eberhard Karls Universität Tübingen
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Mittelalterliche und frühneuzeitliche Bildkünste im nordalpinen Raum; Geschichte, Theorien und Methoden der Bild- und Kunstgeschichte ; Wiederholungen als künstlerische Praktiken
Publikationsauswahl
  • (Hg. mit Stephan Kemperdick und Johannes Rößler) Der Genter Altar. Reproduktionen, Deutungen, Forschungskontroversen, Petersberg 2017.
  • Wiederholung und Differenz. Beobachtungen zum liniengenauen Motivtransfer in der spätmittelalterlichen Buchmalerei, in: Marion Heisterberg et al. (Hgg.): Nichts Neues Schaffen. Perspektiven auf die treue Kopie 1300–1900, Berlin 2018, S. 45–70.
  • (Hg. mit Johannes Grave und Britta Hochkirchen) Sehen als Vergleichen. Praktiken des Vergleichens von Bildern, Kunstwerken und Artefakten, Bielefeld 2020; darin: Farbe und Kennerschaft, S. 27–50.