Sektion 1: Re-form. Form und Formwandel in der mittelalterlichen Kunst
Freitag, 25. März 2022, 11:30–12:00 Uhr, K2, Hörsaal 17.02
Kathrin Müller, Berlin

Typologie – Apologie. Neuformulierungen liturgischer Geräte im 12. Jahrhundert

Das typologische Verständnis der Heiligen Schrift war in seinen Anfängen eine apologetische Argumentationsstrategie, die insbesondere die Rechtmäßigkeit des Kreuzestodes Christi belegen sollte. Sie musste die Spötter übertönen, die das Kreuz für eine Torheit (stultitia) oder – nicht zuletzt mit Berufung auf Dtn 21,13 („Denn von Gott verflucht ist, wer am Holzpfahl hängt“) – für ein Ärgernis (scandalum) hielten (1 Kor 1,23). Die frühchristlichen, häufig in Dialogform verfassten Traktate „Adversus Iudaeos“ beziehungsweise „Adversus Haereses“ boten dafür zahlreiche Stellen aus der hebräischen Bibel auf. Das Genre existierte in abgewandelter Form bis ins Spätmittelalter fort. Im Vortrag soll untersucht werden, auf welche Weise die frühchristliche apologetische Dimension der Typologie, darunter nicht zuletzt ihre antijüdische Stoßrichtung, in den mittelalterlichen Bildkünsten aktualisiert und neugestaltet wurde.

Auffallend ist die große Zahl an überlieferten Kreuzen und liturgischen Geräten des 12. Jahrhunderts mit Bildprogrammen zur Typologie sowie zu den Legenden von der Auffindung und der Rückgewinnung des Kreuzes. Während die bisherige Forschung den Kontext der Neuformulierung der Sakramentenlehre (Hugo von St. Viktor) sowie der typologischen Messallegorien (Ivo von Chartres; Honorius Augustodunensis; Sicard von Cremona) herausgearbeitet hat, fokussiert der Vortrag weniger die Ikonografie als vielmehr die Wandlungsprozesse der Geräteform und ihrer Systematik von Bildorten, die, so die These, mit den Rückgriffen auf die apologetische Typologie einhergingen. Ein signifikantes Beispiel ist das sogenannte „Cloisters Cross“ (England, Mitte 12. Jh.), das auf ebenso entschiedene wie ungewöhnliche Weise als apologetischer, antijüdischer Bild- und Schriftträger gestaltet wurde und den alten Rechtfertigungszwang wiederbelebte. Die Analyse einzelner Objekte soll zudem mit der Frage verknüpft werden, auf welche spezifische Weise die Bildwerke – im Unterschied zu liturgischen Texten und den gelehrten Dialogschriften – die frühchristliche Typologie strukturell re-formierten.
Kurzbiografie Kathrin Müller
1996–2001Studium der Kunstgeschichte und Geschichte in Hamburg und New York (Magisterarbeit: „Astronomie und Kosmologie im ‚Liber floridus‘ des Lambert von Saint-Omer“)
2003–2005Predoctoral Research Scholar am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin
2006Promotion an der Universität Hamburg („Visuelle Weltaneignung. Astronomische und kosmologische Diagramme in lateinischen Handschriften des 11. bis frühen 14. Jahrhunderts“)
2006–2009Wiss. Mitarbeiterin am Kunsthistorischen Institut in Florenz
2009–2016Akad. Rätin a. Z. an der Goethe-Universität Frankfurt am Main
seit 2017Professorin für Bildkulturen des Mittelalters am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin
2018Habilitation an der Universität Frankfurt am Main („Musterhaft naturgetreu. Tiere in Seiden, Zeichnungen und Tapisserien des 14. und 15. Jahrhunderts“)
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Maß und Maßlosigkeit in den mittelalterlichen Bildkünsten; Objekte als Bildträger; Geschichte des Kunsthandwerks; höfische Identitäts- und Imaginationswelten im Spätmittelalter; mittelalterliche Diagramme
Publikationsauswahl
  • Visuelle Weltaneignung. Astronomische und kosmologische Diagramme in Handschriften des Mittelalters (Historische Semantik 11), Göttingen 2008.
  • Old and New. Divine Revelation in the Salerno Ivories, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz 54/1 (2010–12), S. 1–30.
  • Manuelle Exegese. Bild und Ding beim ‚Alton Towers Triptychon (um 1150)‘, in: Gerhard Wolf (Hg.): Bild, Ding, Kunst (I Mandorli 13), Berlin/Boston 2015, S. 81–91.
  • (Hg. mit Isabelle Mandrella) Maß und Maßlosigkeit im Mittelalter (Das Mittelalter 23/1), Berlin/Boston 2018.
  • Musterhaft naturgetreu. Tiere in Seiden, Zeichnungen und Tapisserien des 14. und 15. Jahrhunderts (Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst 21), Berlin 2020.