Sektion 6: Ästhetische Erziehung als Museumsaufgabe?
Donnerstag, 24. März 2022, 15:30–16:00 Uhr, HP, Hörsaal 2.02
Anna-Sophie Laug, Weimar / Alexandra Panzert, Hannover

Sammeln, Lehren, Zeigen – Ge­schmacks­bil­dung in den deutschen Kunst­gewerbe­museen und -schulen des langen 19. Jh.s

Gestaltungs- und Geschmacksfragen standen im Zentrum der Kunstgewerbebewegung, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts auf ästhetische und damit einhergehend auf wirtschaftliche sowie soziale Missstände reagierte. Diese wurden insbesondere im Zuge der Weltausstellungen evident und waren eng mit den Umwälzungen und Prozessen der Industrialisierung verknüpft. Der Diskurs innerhalb der Kunstgewerbebewegung warf die Frage auf, ob sich ein reformiertes, zeitgemäßes Kunstgewerbe und eine allgemeine Geschmacksbildung gegenseitig positiv beeinflussen und damit wiederum auf die Gesellschaft einwirken könnten.

Ein elementares Instrument zur Umsetzung der Reformziele war die Etablierung eines neuen Typus innerhalb der Museumslandschaft, des Kunstgewerbemuseums. Dieses richtete sich ebenso an ein breites Publikum als potentielle Konsumenten wie an Entwerfer und Gewerbetreibende, die als Künstler, Produzenten und Auftraggeber die Form des Kunstgewerbes in all seinen Spielarten maßgeblich bestimmten. Gemeinsam mit den ihnen häufig angegliederten Unterrichtsanstalten verfolgten die Kunstgewerbemuseen einen umfassenden geschmacksbildnerischen Auftrag, der sich u. a. in der Anlage von Vorbilder- und Lehrmittelsammlungen niederschlug.

Neben den Dauerausstellungen sollten Sonder- und Wanderausstellungen die neue und beispielhafte Ästhetik verbreiten, wobei zunächst Stilkenntnis und später das Naturstudium im Fokus standen. Die sortierte Aufreihung der Exponate in den Museen wurde um 1900 von komplett eingerichteten Musterräumen abgelöst, in denen „[…] dem Publikum, […] dem Schüler in richtiger Weise gezeigt werden [kann], was moderne Künstler vermögen, nach welcher Richtung echter Kunstsinn das Kunstgewerbe jetzt und für die nächste Zeit zu steuern sucht“ (Wilhelm Bode 1896/97).

Der Vortrag nimmt die Entstehung, den Charakter und die Funktion der kunstgewerblichen Museumssammlungen sowie der Kunstgewerbeschulen des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg in den Blick und fragt nach der Rolle sowie dem Verhältnis dieser zentralen Akteure der Debatten um Geschmacksbildung und der beginnenden Diskussion um eine gute Formgestaltung. Von zentralem Interesse sind dabei die Kunstgewerbemuseen in Nürnberg, Hamburg, Dresden und Berlin mit den dazugehörigen Kunstgewerbeschulen sowie ihre Programmatik in Bezug auf das Ausstellungs- und Unterrichtswesen.

An der Erarbeitung des Vortrags war neben den beiden Referentinnen auch Sandra König (Leipzig) beteiligt.
Kurzbiografie Anna-Sophie Laug
2001–2006Studium der Älteren Deutschen Literatur und Kunstgeschichte in Göttingen und Berlin
2012–2016Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin („‚Hie Volkskunst!‘ Leben und Werk des Künstlers, Kunstschriftstellers und Pädagogen Oskar Schwindrazheim (1865–1952)“)
2018–2020Wiss. Volontärin an den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden
seit 2021Wiss. Assistentin am Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden
seit 2022Wiss. Mitarbeiterin (Werkverzeichnis Henry van de Velde) an der Klassik Stiftung Weimar
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Freie und Angewandte Kunst zwischen Historismus und Moderne; Kunst am Bau
Publikationsauswahl
  • Der „Hamburger Pflanzenstil“. Die Rezeption floraler Formen im Hamburger Kunstgewerbe des späten 19. Jahrhunderts, in: Jana Kittelmann (Hg.): Botanik und Ästhetik (Annals for History and Philosophy of Biology 22), Göttingen 2018, S. 213–229.
  • Von Dornburg nach Velten. Bauhaus-Keramik und die Steingutfabriken Velten-Vordamm, in: Ulrike Kremeier und Ulrich Röthke (Hgg.): Das Bauhaus in Brandenburg. Industriedesign und Handwerk im Zeichen der Moderne, Cottbus 2019, S. 36–51.
  • Ein architektonisches Kleinod am Südstrand – Dr. Gmelin’s Nordsee-Sanatorium von August Endell, in: Ulrike Wolff-Thomsen (Hg.): 200 x Badesaison. Seebad Wyk auf Föhr 1819 bis 2019, Köln 2019, S. 37–45.
  • „Das ganze Leben soll zu einer großen gleichwerthigen Kunst werden.“ Angewandte Kunst um 1900 zwischen Neubewertung und Autonomisierung, in: Kritische Berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften 4/2019, S. 18–27.
  • Oskar Schwindrazheim (1865–1952). Ein Künstler, Pädagoge und Kunstschriftsteller zwischen Tradition und Reform (Beiträge zur Geschichte Hamburgs 69), Göttingen 2020 (zugleich Diss. Berlin 2018).
Kurzbiografie Alexandra Panzert
2006–2012Studium der Kunstgeschichte und Musikwissenschaften in Dresden
2013–2015Wiss. Volontärin und Projektmitarbeiterin am Bröhan-Museum, Landesmuseum für Jugendstil Art Deco und Funktionalismus, Berlin
seit 2016Wiss. Mitarbeiterin an der Fakultät für Design und Medien der Hochschule Hannover
seit 2017Promotionsstudium an der Universität Erfurt
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Bauhaus; künstlerische Ausbildung im 19. und 20. Jh.; Kunstgewerbe und Design im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik
Publikationsauswahl
  • Kohlblätter oder Quadrate – Die Rolle der Nachahmung in der Ausbildung an deutschen Kunstschulen in den 1910er und 1920er Jahren, in: Friedrich Weltzien und Antonia Ulrich (Hgg.): Design und Mimesis, Berlin 2019, S. 138–152.
  • „Radikal neu“ oder „alte Schule“? Das Bauhaus und künstlerische Ausbildungsinstitutionen im Kaiserreich, in: Bernd Hüttner und Georg Leidenberger (Hgg.): 100 Jahre Bauhaus – Alternative Beiträge und Perspektiven, Berlin 2019, S. 181–192.
  • Zwischen ‚freier‘ und ‚angewandter‘ Kunst: die Vereinigten Staatsschulen Berlin, die Kölner Werkschulen und das Bauhaus auf dem Weg zur Designausbildung, in: Kritische Berichte 4/2019, S. 31–41.
  • Mitstreiter, Vorbild, Konkurrenz. Reformierte Kunstschulen der Weimarer Republik im Austausch, in: Rafał Makała und Beate Störtkuhl (Hgg.): Nicht nur Bauhaus. Netzwerke der Moderne in Mitteleuropa, Berlin 2020.