Sektion 5: Vergleichen und deuten: Semantiken der Form
Samstag, 26. März 2022, 9:15– 9:45 Uhr, K2, Hörsaal 17.01
Thomas Ketelsen, Weimar

Rembrandt-Zeichnungen. Über die Zukunft der Kennerschaft

Die klassische Stilkritik auf der Basis des vergleichenden Sehens ist im Fall der Zeichnungen Rembrandts bis heute nie ernsthaft infrage gestellt worden. Hofstede de Groot hatte 1906 nicht nur den Reigen der kritischen Werkverzeichnisse eingeläutet, sondern zugleich einen kennerschaftlichen Diskurs begründet, in dessen Rahmen sich alle folgenden Großprojekte von Otto Benesch über Werner Sumowski bis zu Peter Schatborns Werkverzeichnis (2019) bewegt haben. Trotz der „erstaunliche(n) Vielseitigkeit des Künstlers“ erkennt man „in Kleinigkeiten die Identität des Stils und die Einheit in der künstlerischen Ausführung, die nur im Nebensächlichen zu verschiedenen Perioden, bei anderen Materialien und wechselnder Stimmung des Künstlers Veränderungen erfährt“. Damit umschrieb Hofstede de Groot nicht nur sein Credo als Kenner, er setzte im Sinne eines „epistemologischen Operators“ (Michel Foucault) eine ganze Disziplin „in Szene“. Fortan ging es um die „Identität des Stils“, also um eine „Semantik der Form“ im zeichnerischen Werk Rembrandts, die Kohärenz und Lesbarkeit versprach. An diesem Anspruch hat sich die Kennerschaft bis jetzt abgearbeitet und erschöpft. Waren es anfangs noch über 1400 Rembrandt zugeschriebene Zeichnungen, so sind es heute gerade einmal die Hälfte. Während das Verfahren des Vergleichs für die Zeichnungen nie infrage gestellt worden ist, kam es für die Gemälde durch die Reflexionen zur Methode der Form- und Stilkritik von Ernst van de Wetering (Corpus of the Rembrandt Paintings VI, 2014) zu einer kopernikanischen Wende innerhalb des Rembrandt Research Project. In der Gemäldeforschung ist die Stilkritik seither nur ein Aspekt neben der durch Materialanalysen gestützten Rekonstruktion des künstlerischen Tuns als „handeling“ oder „savoir-faire“ (Jean-Luc Nancy).

Eine vergleichbare Neuausrichtung für die Zeichnungswissenschaft ist überfällig. Nach einer Problemskizze, die die Voraussetzungen des Vergleichs kritisch befragt, soll das Verfahren der Materialanalyse im Zusammenspiel mit der klassischen Stilkritik ausgelotet werden. Anhand von Rembrandt-Zeichnungen aus dem Bestand der Klassik Stiftung Weimar werden die Möglichkeiten und Grenzen der Materialanalyse aufgezeigt. Zudem soll der Begriff der „Familienähnlichkeit“ (Ludwig Wittgenstein) für die Stilanalyse nutzbar gemacht werden mit dem Ziel, diese aus ihrer Zirkularität des vergleichenden Sehens herauszuführen.
Kurzbiografie Thomas Ketelsen
1999–2010Mitarbeiter an der Hamburger Kunsthalle und Kurator am Kupferstich-Kabinett in Dresden
2010–2018Leiter der Graphischen Sammlung im Wallaf-Richartz-Museum in Köln
2018–2021Leiter eines DFG-Projekts zur wissenschaftlichen Erschließung der niederländischen Zeichnungen in der Klassik-Stiftung Weimar
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Kunsttheorie, Kunsthandel; Rembrandt, niederländische und italienische Zeichnungen
Publikationsauswahl
  • Rembrandt, oder nicht? Die Gemälde, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2000.
  • Zeichnen im Zeitalter Bruegels. Die niederländischen Zeichnungen im Dresdner Kupferstich-Kabinett – eine Typologie, Köln 2011.