Donnerstag, 24. März 2022, 9:40–10:00 Uhr, K2, Hörsäle 17.01 & 17.02
Monika Wagner, Hamburg

Material und Farbe als Faktoren der Form

1860 legte Gottfried Semper mit seiner Publikation „Der Stil“ eine Theorie der „nützlichen Künste“ vor, in der Materialien und Bearbeitungsweisen zu zentralen Faktoren der Stilgenese – verstanden als Entwicklungsgeschichte der Formen – erhoben wurden. Indem Semper die Form nicht als das Ergebnis eines „Kunstwollens“ (wie Alois Riegl in Abgrenzung von Semper später formulieren sollte) betrachtete, sondern den Materialien und ihrer Bearbeitung eine aktive Rolle in der Entwicklung von Formen zuwies, wurde er zum heftig bekämpften „Materialisten“. Gleichwohl war das Material als Ko-Laborateur der Form fortan auf der Agenda. Allerdings wirkte sich das zunächst nur auf weniger angesehene Gattungen bzw. Randbereiche der Kunst aus oder führte zur Forderung nach Materialgerechtigkeit, die häufig als Instrument der Geschmacksregulierung diente. Mit dem Material kam ein Akteur ins Spiel, der bis dahin in der Formanalyse kaum Beachtung gefunden hatte.

Darüber hinaus gewann auch die Farbe an Bedeutung. Doch im Unterschied zu früheren querelles um die Farbe im Verhältnis zur Linie ging es nicht nur um die zeitgenössische Malerei, die sich von der Formbindung zu „befreien“ suchte. Vielmehr entstand mit der Entwicklung der Farbfotografie ein Instrument, das eine veränderte Sicht auf die Geschichte der Kunstformen erlaubt hätte. Allerdings wurde die Farbfotografie in der akademischen Kunstgeschichte auch dann noch weitgehend abgelehnt, als Farbfotografie und Farbreproduktion qualitativ hoch entwickelt waren. Auch hier stellte das Kunstgewerbe mit technisch unterschiedlichen Farbreproduktionen eine frühe Ausnahme dar, doch die Etablierung des Faches und die Entwicklung kunstgeschichtlicher Methoden basierte auf fotografischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Formanalytiker wie Heinrich Wölfflin haben das Defizit schwarz-weißer Reproduktionen durchaus registriert und verbal markiert, doch blieb dies ohne visuelle Evidenz in Gestalt farbiger Reproduktionen ohne große Resonanz. Eine formale Analyse, die Material und Farbe als Faktoren einbezieht, kann sich nicht allein auf komplexere Weise einem Kunstwerk nähern, sondern bietet auch adäquatere Vergleichsmöglichkeiten mit Artefakten anderer Kulturen und Milieus.
Kurzbiografie Monika Wagner
1965–1969Studium der Malerei an der Kunstakademie Kassel
1970–1977Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und Literaturwissenschaft in Hamburg und London
1977–1986Wiss. Assistentin, dann Leiterin der Graphischen Sammlung am Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Tübingen
1986–2009Professorin am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg; Leitung des Funkkollegs „Moderne Kunst“
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Europäische und US-amerikanische Kunst der Moderne; Gestaltung öffentlicher Räume im 19. und 20. Jh.; William Turner und die englische Malerei; Semantik künstlerischer Materialien; Kunstgeschichte in Schwarz-Weiß-Verhältnis von Reproduktionstechnik und Methode
Publikationsauswahl
  • Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001, 2013.
  • William Turner, München 2011.
  • (Hg. mit Helmut Lethen) Schwarz-Weiß als Evidenz, Frankfurt, New York, 2015; darin: Kunstgeschichte in Schwarz-Weiß. Visuelle Argumente bei Panofsky und Warburg, S. 126–144.
  • (Hg. mit Michael Friedrich) Steine. Kulturelle Praktiken des Materialtransfers, Berlin/Boston 2017; darin: Roter Granit in China. Materialikonographische Überlegungen zur Versöhnung von Politik und Kommerz, S. 65–80.
  • Marmor und Asphalt. Soziale Oberflächen im Berlin des 20. Jahrhunderts, Berlin 2018.