Sektion 3: Realismus als Formproblem
Donnerstag, 24. März 2022, 17:00–17:30 Uhr, K2, Hörsaal 17.01
Simon Baier, Basel

Isa Genzkens blinder Realismus

1982 fotografierte Isa Genzken eine kleine Zeichnung Gustave Courbets, um sie daraufhin als Appropriation in ihr eigenes Œuvre zu integrieren. Courbets „Les scieurs de long“ aus dem Jahr 1860 zeigt zwei Männer, die einen aufgebockten Holzstamm mithilfe eines Sägeblatts der Länge nach in gleichmäßige flache Bretter zerteilen. Der explizite Verweis auf die Tradition einer realistischen Kunstpraxis steht im Kontext von Genzkens Produktion abstrakter Objekte: meist hölzerne Ellipsoiden und Hyperboloiden, die langgestreckt direkt auf dem Boden liegen. Wie ist dieser Widerspruch zu vermitteln?

Genzkens Lektüre von Courbets Werk, so die These, weist zurück, ihre Beschäftigung mit der Tradition der Abstraktion – vom Monochrom bis zur Minimal Art – aber auch die Verwendung der für die Produktion ihrer topologisch komplexen Objekte notwendigen Computertechnik als rein formalistisch oder technophil auszulegen. Stattdessen gibt das Modell Courbets an, wie ihre abstrakten Objekte als Reflexionen zum Status künstlerischer Materialität und deren Bezug zu gesellschaftlicher Produktion im Ganzen lesbar sein können. Die in Courbets Zeichnung gezeigten Baumstämme, die in geometrisch homogene Teile überführt werden, sind unschwer als Figurationen von Genzkens Ellipsoiden lesbar. Damit steht ein spezifischer Akt der Segmentierung im Zentrum, den die Arbeiter in Courbets Zeichnung zwar per Hand vollziehen, ohne jedoch auf die vollzogene Arbeit zu blicken. Sie überführen eine organisch gewachsene Natur in ein modular verwendbares Material.

Zerstückelung, Teilung und damit verbunden Serialität sind in Genzkens Werk Mitte der 1970er Jahre insgesamt zentral. Ihre Funktion liegt in der bestimmten Negation und der Neuartikulierung des Visuellen, wodurch sich Genzkens Werk sowohl mit den Strategien der Conceptual Art der 1970er Jahre als auch mit der Tradition des Konstruktivismus der 1920er Jahre verbindet. In einem letzten Schritt bezieht sich ihre Negation des Visuellen auf die sich etablierende Computertechnik als neues hegemoniales Paradigma gesellschaftlicher Produktion. Genzkens eigene Werke explizieren damit im Rückgriff auf Courbet ein Modell des Realismus, das abstrakte Werke nicht ausschließt, sondern solche im Gegenteil einfordert, will die Kunst der Neuauslegung sinnlicher Erfahrung und gesellschaftlicher Produktion im Ganzen im Schatten digitaler Technik Rechnung tragen.
Kurzbiografie Simon Baier
2001–2005Studium der Kunstwissenschaft, Medientheorie und Philosophie in Karlsruhe
2005–2006Fellow for Critical Studies am Independent Study Program des Whitney Museum of American Art, New York
2008–2013Mitarbeiter am NFS „Bildkritik – eikones“ an der Universität Basel
2009–2013Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere Kunstgeschichte, Kunsthistorisches Seminar der Universität Basel
2013–2015Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für moderne und zeitgenössische Kunst, Kunsthistorisches Institut der Universität Zürich
2015–2016Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere Kunstgeschichte, Kunsthistorisches Seminar der Universität Basel
2016–2017Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neueste Kunstgeschichte, Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien
seit 2017Laurenz-Professur für Zeitgenössische Kunst am Kunsthistorischen Seminar der Universität Basel
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Materialität und Medialität des Kunstwerks im Informationszeitalter; zeitgenössische Kunstkritik; historische Avantgarden in Europa und Russland; philosophische Ästhetik der Moderne und Kunsttheorie der Gegenwart; Ökologisierung der Ästhetik im Anthropozän
Publikationsauswahl
  • Economy and Excess. Malevich and the Survival of Painting, in: Britta Dümpelmann (Hg.): Kasimir Malevich. The World as Objectlessness, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Basel, Ostfildern 2014, S. 63–79.
  • Chagalls Fall, in: Josef Helfenstein (Hg.): Marc Chagal. Die Jahre des Durchbruchs 1911–1919, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Basel, Ostfildern 2017, S. 62–75.
  • The Anarchically Analogue. Donald Judd as Contemporary, in: Alu Menziken AG (Hg.): Donald Judd & Switzerland, Ostfildern 2019, S. 177–189.
  • Feld und Signal. Aporien der Malerei bei El Lissitzky und Kazimir Malewitsch, 1928, München 2021.
  • Lives of Painters, in: Anna Cerlitzky (Hg.): Reena Spaulings. Her and No. Museum Ludwig Köln (in Vorbereitung).