Sektion 7: „Die gute Form“ – Überholtes Dogma oder bewährtes Paradigma im Design?
Samstag, 26. März 2022, 12:15–12:45 Uhr, K2, Hörsaal 17.02
Roland Meyer, Cottbus

Interface vs. Gestalt. Kritik und Krise der „guten Form“ um 1968

„Die gute Form“ war ein Versöhnungsversprechen. Propagiert im Zeichen von Wiederaufbau und Re-Education, sollte sie technische „Zivilisation“ und ästhetische „Kultur“ in funktionaler Schönheit vereinen. Zugleich bot sie eine spezifisch deutsche Alternative zur amerikanischen Konsumkultur und ihrem oberflächlichen „Styling“. „[D]ie gute Form ist das Signum der Qualität“, so verkündete der Rat für Formgebung: „Da es Menschen sind, die mit den Dingen und Geräten umgehen, mit ihnen leben und arbeiten, besitzt die gute Form bildende und prägende Kraft im humanen, sozialen, kulturellen Bereich.“ Der „guten Form“ wurde einiges zugetraut: Sie versprach nicht bloß Beständigkeit, sondern zugleich kulturelle Entwicklung und Erneuerung.

Um 1968 jedoch hatte dieses Versprechen an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Vonseiten der Kritischen Theorie kam die „gute Form“ unter Ideologieverdacht, als falscher Schein der Versöhnung, der die Interessenskonflikte zwischen „Monopolkapital“ und Konsumentinnen und Konsumenten verschleiere. Nicht zuletzt die „geplante Obsoleszenz“ vieler vermeintlich hochwertiger Produkte nährte den Zweifel am „Signum der Qualität“. Vor allem aber hatte sich die Dingwelt selbst zu verändern begonnen. Max Bills Vorstellung der „guten Form“ war noch ganz auf das Einzelartefakt bezogen gewesen, in dessen äußerer Gestalt sein Zweck sichtbar zum Ausdruck kommen sollte. Doch dieses Ideal der „organischen“ Einheit von Form und Funktion, so etwa die Kritik Lucius Burckhardts, mochte vielleicht für Zangen und Kaffeekannen gelten, nicht aber für die neuartigen elektronischen Geräte auf Transistorbasis. Hier bestimmte nicht mehr die sichtbare „Gestalt“, sondern die „unsichtbare Organisation“ die Funktion, und ein „Kasten voller Drähte und Batterien“ konnte ebenso gut Musikinstrument wie Rechenmaschine sein.

Die Aufgabe von Gestaltung sollte sich damit fundamental verändern. In ihren Fokus rückte nun, mit den Worten Gui Bonsiepes, die Arbeit am „Interface“, also an kommunikativen Schnittstellen, die den Benutzerinnen und Benutzern Handlungsmöglichkeiten in einer immer unsinnlicher werdenden technischen Apparate-Umwelt erschließen sollten. Indem er die Kritik an der „guten Form“ um 1968 rekonstruiert, will der Beitrag ebenso das Versprechen des Formbegriffs wie dessen immanente Grenzen aufzeigen – Grenzen, die nicht zufällig an der Schwelle von industrieller Moderne und beginnender Informationsgesellschaft erstmals sichtbar wurden.
Kurzbiografie Roland Meyer
1998–2003Studium der Kunstwissenschaft und Medientheorie, Philosophie und Ästhetik sowie des Grafikdesigns an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe
2007–2014Wiss. Mitarbeiter für Kunst- und Kulturgeschichte an der Universität der Künste Berlin
2016–2017Wiss.-kuratorischer Mitarbeiter im Ausstellungsprojekt „Das Gesicht. Eine Spurensuche“ des Deutschen Hygiene-Museums Dresden
2017Promotion an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe („Operative Porträts. Eine Bildgeschichte der Identifizierbarkeit“)
2017–2018Leiter der Abteilung „Das Technische Bild“ (in Vertretung) am Institut für Kunst- und Bildgeschichte und Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik, HU Berlin
seit 2018Akad. Mitarbeiter im Fachgebiet Kunstgeschichte an der BTU Cottbus-Senftenberg
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Geschichte und Theorie technischer Bildmedien; Geschichte und Theorie der „Visuellen Kommunikation“; Medialität und Materialität von Interfaces; visuelle Kultur der Moderne
Publikationsauswahl
  • (Hg. mit Susanne Hauser und Christa Kamleithner) Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften, 2 Bd.e, Bielefeld 2011/2013.
  • (Hg. mit Christa Kamleithner und Julia Weber) Medien / Architekturen, Schwerpunkt der ZfM – Zeitschrift für Medienwissenschaft 12, Berlin/Zürich 2015.
  • Operative Porträts. Eine Bildgeschichte der Identifizierbarkeit von Lavater bis Facebook, Konstanz 2019.
  • Gesichtserkennung (Reihe Digitale Bildkulturen), Berlin 2021.