Sektion 11: Gastsektion Polen
Donnerstag, 24. März 2022, 17:45–18:15 Uhr, K2, Hörsaal 17.02
Marta Smolińska, Posen

Haptik von Form und Materie in den Werken ausgewählter Künstler/-innen der 2. Krakauer Gruppe: Jadwiga Maziarska, Erna Rosenstein, Maria Pinińska-Bereś und Andrzej Pawłowski auf ihrem Weg zur Überwindung der Visualität

Ziel des Beitrags ist es, ausgewählte Werke von vier Künstlerinnen und Künstlern der 2. Krakauer Gruppe – Jadwiga Maziarska, Erna Rosenstein, Maria Pinińska-Bereś und Andrzej Pawłowski – unter dem Gesichtspunkt der Frage nach der Rolle von Experimenten mit Form und Materie zu analysieren. Die Fokussierung auf diese Aspekte erlaubt mir, eine These über die programmatische Behandlung der Form als besondere Wahrnehmungsherausforderung für Rezipientinnen und Rezipienten aufzustellen.

Meine Thesen lauten wie folgt:
- Die Werke dieser Künstlerinnen und Künstler offenbaren ihren progressiven Charakter vor dem Hintergrund der polnischen Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wenn sie aus der Perspektive zeitgenössischer Theorien analysiert werden: neuer Materialismus; verkörperte, somatische und multisensorische Wahrnehmung, die nicht nur den Sehsinn, sondern auch den Tastsinn einbezieht.
- Die Frage der Form und enge Verbindung der Form mit der Materie des Werks sind entscheidend für die Aktivierung des Tastsinns während des Wahrnehmungsprozesses, der über okularozentrische Kategorien hinausgeht.
- Diese Künstlerinnen und Künstler experimentierten konsequent und absichtlich mit Form und Materie (z. B. Pawłowskis Theorie der natürlich gestalteten Form), um Wahrnehmungsherausforderungen zu schaffen und die Dominanz des Sehsinns zu hinterfragen.

Ich werde diese Phänomene daher im Kontext der materialistischen, sensualistischen und empirischen Wenden und der gegenwärtig zunehmenden Tendenz analysieren, die das Kunstwerk als ein materielles Objekt mit kausalen und physischen statt metaphysischen Eigenschaften betrachtet. Ich werde Maziarskas Wachsmalereien, Rosensteins Assemblagen, Pinińska-Bereś’ weiche, rosafarbene Objekte und Pawłowskis Zyklus „Mannequins“ durch das Prisma der Materialtheorie betrachten (nach A.-S. Lehmann, J. J. Gibson, B. Latour, K. Barad u. a.). Die Materialtheorie impliziert die Schlüsselrolle der Beziehungen zwischen Form und Materie bei der Gestaltung der verkörperten Wahrnehmung.

Eine solche Perspektive wird den bisherigen Forschungsstand zur Geschichte der polnischen Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts um die Kategorien der Haptik, der Handlungsmacht (agency) der Form und Materie und der Verkörperung der Wahrnehmung durch die besonders intensive Einbeziehung des Tastsinns ergänzen.
Kurzbiografie Marta Smolińska
1994–1999Studium der Kunstgeschichte in Posen (Magisterarbeit: „Noce modernistów [Die Nächte der Modernisten]“)
1999–2003Promotionsstudium an der Nikolaus-Kopernikus-Universität Toruń und an der Adam-Mickiewicz-Universität Posen („Młody Mehoffer [Der junge Mehoffer]“)
2013Habilitation („Otwieranie obrazu [Das Öffnen des Bildes. Die De(kon)struktion der universellen Mechanismen des Sehens in der ungegenständlichen Malerei in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts]“)
2003–2014Assistenzprofessorin am Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Universität Toruń
2012 DAAD-Stipendiatin an der Humboldt-Universität zu Berlin
2014Fellow an der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien der LMU München
seit 2014Professorin am Lehrstuhl für Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität der Künste in Posen
seit 2016Leiterin des Lehrstuhls für Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität der Künste in Posen
2018/2021DAAD-Stipendiatin im Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München und an der LMU München (2018) sowie an der Freien Universität Berlin (2021)
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Erweiterte Haptik und verkörperte Wahrnehmung; ungegenständliche Malerei der zweiten Hälfte des 20. Jh.s; kuratorische Strategien und zeitgenössische Kunst; Transmedialität; Border Art Studies
Publikationsauswahl
  • Julian Stańczak: Op art and the dynamics of perception, Warschau 2014.
  • (Hg. mit Burcu Dogramaci) Re-Orientierung. Kontexte zeitgenössischer Kunst in der Türkei und unterwegs, Berlin 2017.
  • (Hg. mit Maike Steinkamp) A-geometry. Hans Arp and Poland, Posen 2017.
  • Haptyczność poszerzona. Zmysł dotyku w sztuce polskiej drugiej połowy XX i początku XXI wieku [Erweiterte Haptik. Der Tastsinn in der polnischen Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und am Anfang des 21. Jahrhunderts], Krakau 2020.
  • Vom Teilen. Deutsch-polnische künstlerische und kuratorische Perspektiven auf eine gemeinsame Grenze, in: Regina Wenninger und Annika Wiener (Hgg.): Verflechtung und Abgrenzung. Polnisch-deutsche Perspektiven in der Kunstgeschichte seit 1945, kunsttexte.de/ostblick 4/2018.