Sektion 8: Formanalyse und Formfindung in Zeiten computergenerierter Architektur
Samstag, 26. März 2022, 11:30–12:00 Uhr, HP, Hörsaal 2.01
Ole Fischer, Salt Lake City

Form. Finden. Fragen? Greg Lynn, parametrisches Entwerfen und die analoge Kontinuität

In seinem programmatischen Text „Animate Form“ von 1999 fasst der US-amerikanische Architekt Greg Lynn (der sein Büro signifikanterweise FORM genannt hat) die erste Phase der von ihm mitbegründeten parametrischen Blob-Architektur zusammen: Durch den Einsatz von Computern und leistungsfähiger Animationssoftware, Scripting, sowie topologischen, auf Differentialmathematik beruhenden Werkzeuge habe sich der „Entwurf“ hin zum Resultat interner und externer Einflüsse (vektorielles Objekt und Umgebung als „Feld“) und deren Wechselwirkungen verschoben. In diesem Prozess setzt die Architektin Regeln (Parameter und ihre Interaktion), definiert Daten, dynamische Abläufe, und latente Möglichkeitsräume, in denen durch zahlreiche Versuche und selektives Entscheiden die optimale Form „gefunden“ wird. Auch wenn Lynn dabei die zahlreichen Unterschiede gegenüber statischen analogen Medien (Zeichnung, Modell) hervorhebt, beschreibt er im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen die digitale Architektur als eine evolutionäre Fortentwicklung der Disziplin, nicht als deren Ersatz oder Überwindung. So setzt er die neue Praxis in eine Traditionslinie sowohl zur klassischen Architekturtheorie seit der italienischen Renaissance (Alberti) als auch zur Moderne und Postmoderne und verknüpft sie mit zahlreichen Referenzen zu anderen kulturellen Feldern (Film, Schiffs- und Flugzeugbau, Evolutionsbiologie, Morphologie, Poststrukturalismus, zeitgenössische Kunst etc.), die nicht notwendigerweise auf Computerprogrammen oder mathematischen Theorien basieren.

Dieser Vortrag nimmt den inzwischen selbst klassischen Text Lynns zum Ausgangspunkt, um die Parallelen, Unterschiede und Kontinuitäten von analog-abbildender und parametrisch-generativer Architektur zu diskutieren, um die Entscheidungspfade und Beurteilungskriterien des Prozesses ebenso wie des Resultates (Form bzw. fertiges Gebäude) zu klären. Dabei wird die digital specificity einer parametrischen Architektur entsprechend Lynns eigenem Verständnis folgend nicht als Bruch mit der analogen verstanden, sondern als eine Weiterentwicklung, ganz wie die Differentialmathematik die euklidische Geometrie auch erweitert und nicht ersetzt hat. In kritischer Abgrenzung wird der Vortrag einzelne „blinden Flecken“ dieses Ansatzes einer digitalen Formfindung adressieren, um sie mit zeitgenössischen Thesen einer digitalen Materialität (im Sinne von Achim Menges und Mario Carpo) zu ergänzen.
Kurzbiografie Ole Fischer
1995–2001Studium der Architektur an der Bauhaus-Universität Weimar und der ETH Zürich
2002–2009Wiss. Mitarbeiter (Assistent, Oberassistent und Vertretungsprofessor) für Architekturtheorie am Institut gta der ETH Zürich
2008Promotion am Department Architektur der ETH Zürich („Nietzsches Schatten. Henry van de Velde – Von Philosophie zu Form“)
2009–2010Post-Doc-Gastforscher und Visiting Professor an der Harvard Graduate School of Design (GSD), am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und an der Rhode Island School of Design (RISD)
2010Assistant Professor for History Theory an der University of Utah School of Architecture (Stellenantritt 2011, seit 2017 Associate Professor und seit 2019 Associate Director der School of Architecture)
2015Gastprofessor für Architekturtheorie an der TU Wien
2018Gastforscher an der TU Berlin und FU Berlin (Sabbatical)
2019Gastprofessor für Architekturtheorie an der TU Graz
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Architekturgeschichte und Architekturtheorie der Moderne und Gegenwart; Rezeptionsgeschichte der Philosophie in der Architektur; Architekturkritik und kritische Architektur(-theorie)
Publikationsauswahl
  • (Hg. mit Shundana Yusaf et al.) Dialectic. Peer-Reviewed Journal of Architecture, San Francisco, seit 2011.
  • Architecture in/out of the Boudoir? – The Autonomy of Architecture and the Architecture of Autonomy, in: Teresa Stoppani (Hg.): This Thing called Theory, London 2016, S. 33–44.
  • Gefangen in der Selbstreferentialität? – Bemerkungen zur digitalen Nachahmung analoger Zeichnungsprozesse, in: Eva v. Engelberg-Dočkal, Markus Krajewski und Frederike Lausch (Hgg.): Ähnlichkeit: Prozesse und Formen. Mimetische Praktiken in der neueren Architektur, Heidelberg 2017, S. 40–50.
  • Nietzsches Schatten. Henry van de Velde – von Philosophie zu Form, Berlin 2012.
  • Institutionalisierte Kritik? Über die (Neu-)Geburt der Architekturtheorie nach der Moderne, in: Carola Ebert, Eva Maria Froschauer und Christiane Salge (Hgg.): Vom Baumeister zum Master. Formen der Architekturlehre vom 19. bis ins 21. Jahrhundert, Berlin 2019, S. 359–379.