Sektion 3: Realismus als Formproblem
Donnerstag, 24. März 2022, 17:45–18:15 Uhr, K2, Hörsaal 17.01
Katharina Brandl, Basel

Die Zeiten fließen. Realistische Computerspielbilder bei Hito Steyerl und Harun Farocki

„Denn die Zeiten fließen, und flössen sie nicht, stünde es schlimm für die, die nicht an den goldenen Tischen sitzen“, schreibt Bertolt Brecht in seinem Fragment „Volkstümlichkeit und Realismus“: „Die Methoden verbrauchen sich, die Reize versagen. Neue Probleme tauchen auf und erfordern neue Mittel. Es verändert sich die Wirklichkeit; um sie darzustellen, muss sich die Darstellungsart ändern.“ Wenn Brecht in unterschiedlichen Fragmenten betont, Realismus sei keine Formsache, zielt er darauf, dass realistische Werke vor allem eines einlösen müssten: der spezifischen – in seinen Worten: konkreten – Gegenwart zu entsprechen.

Dieser Beitrag überprüft zwei Videoinstallationen aus den 2010er Jahren, Hito Steyerls „Factory of the Sun“ (2015) und Harun Farockis „Ernste Spiele I: Watson ist hin“ (2010), auf diesen realistischen Anspruch hin, der sich in dem spezifischen Verhältnis zu ihrer Gegenwart entfaltet. Bei beiden Arbeiten handelt es sich um Videoinstallationen mit deutlichen Verweisen – auf der thematischen, diegetischen und bildlichen Ebene – auf digitale Spiele. Der Beitrag diskutiert, warum diese (interaktionsfreien) Videoinstallationen, die digitale Spiele darstellen, gerade ihren realistischen Anspruch in der Spannung zu ihrer Form eröffnen. Zwei Varianten eines für Computerspielbilder spezifischen Realismus werden in den Blick genommen: Hito Steyerls „rhetorischer Realismus“ und Farockis „postindexikalischer Realismus“. In einem ersten Schritt wird Hito Steyerls Videoinstallation „Factory of the Sun“ in Hinblick auf ihre Referenzen auf Bertolt Brechts Realismus untersucht und diskutiert, ob der Brecht’sche Realismus mit Steyerls Adaption seiner künstlerischen Mittel vereinbar ist. Im zweiten Teil werden anhand von Harun Farockis vorletzter Werkserie „Ernste Spiele“ (2009/2010) weitere Ideen zum Realismus des Computerspielbildes ins Spiel gebracht. Ausgehend von einer Eigenschaft der „computational aesthetics“ (Fazi/Fuller), nämlich der logischen Äquivalenz unterschiedlicher Systeme, wird ein spezifischer Realitätsbezug des diskutierten Bildtypus fokussiert.

Zitate: Bertolt Brecht, Über Realismus, Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1968, S. 124; M. Beatrice Fazi und Matthew Fuller, Computational Aesthetics, in: Christiane Paul (Hg.): A companion to digital art, Chichester/Malden, MA 2016, S. 281–296.
Kurzbiografie Katharina Brandl
2004–2011Studium der Politikwissenschaft in Wien (Magisterarbeit: „Macht im Museum. Kritik an der Vermittlungsform Audio-Guide“)
seit 2009Kuratorin und Projektleiterin (u. a. als Wiss. Mitarbeiterin des österr. Beitrags zur Architekturbiennale 2014, als Leiterin eines internationalen Residencyprogramms)
2010–2014Studium der Kunstgeschichte in Wien (B.A.)
2012–2016Studium „Master in Critical Studies“ an der Akademie der bildenden Künste Wien (Masterarbeit: „SYNCHRON, DYSCHRON, ANACHRON. Zeitlichkeit als Material der Gegenwartskunst“)
seit 2015Beraterin unterschiedlicher Gebietskörperschaften in Österreich und der Schweiz bei Förderentscheidungen in den Bereichen bildende Kunst, Medienkunst, Jugendkultur und Kreativwirtschaft
seit 2016Doktoratsstudium an der Universität Basel („Am Holodeck. Gaming-Ästhetiken in der zeitgenössischen Kunst“)
2016–2018Stipendiatin der eikones Graduate School
seit 2017Gastdozentin an unterschiedlichen Universitäten und Kunsthochschulen (u. a. ZHdK, Institut Kunst der HGK Basel)
seit 2018Künstlerische Leitung des Kunstraum Niederoesterreich in Wien
seit 2018Wiss. Assistentin an der Schaulager-Professur für Kunsttheorie der Universität Basel
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Geschichte und Theorie der Gegenwartskunst; (feministische) Performance- und Videokunst; Medienkunst seit Mitte der 1990er Jahre
Publikationsauswahl
  • (mit Anne Elizabeth Moore) Bound to fail. Living and working conditions in the comics industry, in: CLOSURE: The Kiel University E-Journal for Comics Studies 05/2018.
  • (Hg. mit Daniela Brugger und Christiane Krejs) Magic Circle, Wien 2018; darin: (mit Daniela Brugger) Magischer Widerstand. Über Hexenpraxen in der Gegenwartskunst, S. 7–19.
  • (mit Friederike Zenker) Interspecies Media Art. Technologische Begegnungen jenseits der Großen Kluft / Technological Encounters beyond the Great Divide, in: EIKON – Internationale Zeitschrift für Photographie und Medienkunst 106 (2019), S. 53–65.
  • (Hg. mit Friederike Zenker) TechnoCare, Wien 2019; darin: (mit Friederike Zenker) Care, Fürsorge, Pflege. Kunst an einem technologischen Kampfplatz unserer Zeit. / Care. Art on a Technological Battlefield of Our Time, S. 7–21.
  • (Hg. mit Claire Hoffmann) Stormy Weather, Wien 2020; darin: (mit Claire Hoffmann) On Human-Made Clouds in Contemporary Art / Stormy Weather. Nuages fabriqués et art contemporain, S. 4–22.