Sektion 11: Gastsektion Polen
Donnerstag, 24. März 2022, 14:45–15:15 Uhr, K2, Hörsaal 17.02
Wojciech Bałus, Krakau

Die im Stil verfangene Form. Zu einem blinden Fleck in der polnischen Kunstgeschichte

In der polnischen Kunstgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts und der Zwischenkriegszeit spielten Namen wie Konrad Fiedler und Adolf von Hildebrand so gut wie keine Rolle, ebenso wie das Konzept der Kunstwissenschaft und die methodologischen Ansätze der sog. jüngeren Wiener Schule. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Ikonik und Hermeneutik ebenfalls kaum rezipiert. Obwohl der sog. Formalismus ein grundlegendes Instrument der Forschung war (und es für viele polnische Wissenschaftler noch immer ist), wird die Form fast ausschließlich als Ausdruck des Stils betrachtet und nicht als ausschlaggebender Faktor, der die Sinnhaftigkeit des Bildes als Bild ausmacht. In meinem Beitrag versuche ich aufzuzeigen, weshalb dies geschehen konnte. Dazu analysiere ich folgende Faktoren:

1. Die Wirkung der Rhetorik und der Anschauungen von Stanisław Witkiewicz. Zwar war für diesen Künstler und Kunsttheoretiker die Form das Wesen der Malerei, doch verstand er sie als Ausdruck des Naturalismus. Gleichzeitig verspottete er Henryk Struve, der zeigen wollte, dass bildinterne Konstruktionsregeln die Form und Aussage eines Kunstwerks bestimmen. Meines Erachtens ist der „Witkiewicz-Komplex“, d. h. die Angst vor einem unsinnigen Theoretisieren, bis heute wirksam.
2. Rückbindung des Konzepts der Werkaussage an die Einfühlungsästhetik, so wie es in Lemberg, dem in der Theoriebildung fortschrittlichsten Milieu in Polen, formuliert wurde (Bołoz Antoniewicz und Podlacha).
3. Ausgehend von einer maximal pragmatischen Auffassung von Stil als Ensemble von Merkmalen zur Datierung, ohne den theoretischen Hintergrund der klassischen Kunstwissenschaft (so blieben von Pinder zwar noch die Falten übrig, doch kaum etwas von seinen Erwägungen über das Verhältnis des Gewandes zum Körper in der gotischen Skulptur und der Auffassung vom Volumen der Skulptur selbst). Diese pragmatische Ausrichtung führte auch dazu, dass sich die polnische Kunstgeschichte komplett gegenüber den Formanalysen verschloss, die von Malern wie Strzemiński oder Witkacy vorgenommen wurden.
4. Fehlender Einfluss der Gestaltpsychologie auf die polnische Kunstgeschichte.
5. Trennung von Form und Ikonografie, die auf die frühe Rezeption der „Methode von Panofsky“ zurückgeht. Die daraus resultierende, von stilistischen Fragen losgelöste Betrachtung des Inhalts basiert nicht auf der Analyse der Struktur eines Werks, sondern auf einer präikonografischen Analyse.
Kurzbiografie Wojciech Bałus
1980–1985Studium der Kunstgeschichte und Philosophie in Krakau
1990Promotion an der Jagiellonen-Universität Krakau („Kunsttheorie von Jan Sas Zubrzycki. Eine Studie aus dem Grenzgebiet der Kunstgeschichte und Geschichte der Ideen“)
1997Habilitation an der Universität Krakau („Mundus melancholicus. Melancholische Welt im Spiegel der Kunst“)
seit 1986Wiss. Mitarbeiter, dann Professor an der Universität Krakau
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Geschichte der Kunsttheorie; Geschichte der Kunst des 19. und 20. Jhs.
Publikationsauswahl
  • Krakau zwischen Traditionen und Wegen in die Moderne. Zur Geschichte der Architektur und der öffentlichen Grünanlagen im 19. Jahrhundert (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 18), Stuttgart 2003.
  • Gotik ohne Gott? Die Symbolik des Kirchengebäudes im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2016.
  • (Hg. mit Magdalena Kunińska) DeMaterialisations in Art and Art-Historical Discourse in the Twentieth Century, Krakau 2018.
  • In the Glow of a Classic: Remarks on the Reception of Heinrich Wölfflin in Polish Art History, in: Evonne Levy und Tristan Weddigen (Hgg.): The Global Reception of Heinrich Wölfflin’s ‘Principles of Art History' (Studies in History of Art 82), Washington 2020, S. 247–258.
  • Stained Glass and the Discovery of the Baroque in the Late Nineteenth Century, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 83 (2020), S. 554–571.