Festvortrag: Das Ding an sich
Prof. Dr. Hartmut Dorgerloh
Generalintendant des Humboldt Forums, Berlin
„Was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht und brauche es nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann.“ – So bringt Immanuel Kant den wesentlichen Kern des Phänomens auf den Punkt, dass die von uns erkannten Gegenstände um uns herum nicht die realen Dinge an sich sind, sondern Erscheinungen. Sie werden geformt durch die Parameter Raum, Zeit und geistige bzw. sinnliche Erkenntnis. Möglich sind demnach vielfache, vollkommen unterschiedliche Anschauungsformen. Die Überlegungen zum Ding an sich sind zu einer weit verbreiteten erkenntnistheoretischen Konzeption und zum philosophischen Gemeinplatz in der abendländischen Philosophie avanciert – angefangen beim griechischen Naturphilosophen Aristoteles bis hin zu Kant, Hegel, Fichte, Nietzsche und Schopenhauer.
Heute oszilliert die Diskussion zwischen dem „Internet der Dinge“, das den Status der Dinge in der Welt und zugleich die Handlungsperspektiven von uns Menschen durch „smarte“ Technologien gravierend verändert und der (Wieder-)Entdeckung bzw. Rückkehr der „Materialitäten“, um „der erstarrten Dingwelt der (Spät-)Moderne wieder Resonanzqualitäten zu verleihen“ (Hartmut Rosa).
Ausgehend von der nicht einlösbaren Idee des „Dinges an sich“ soll in diesem Beitrag nachgefragt werden, ob und wie sich diese aktuelle Debatte auf die Kunstgeschichte auswirkt, wo sie doch fortwährend in den Bedeutungswandel ihrer Gegenstände involviert ist beziehungsweise diesen hervorruft. Verändert „Retroarchitektur” den Stellenwert des Originals in der Denkmalpflege? Was bedeutet Virtual oder Augmented Reality für die Museumspraxis? Wie verändern eine Restaurierung, die Ergebnisse der Provenienzforschung oder der Kunstmarkt ein Objekt? Oder eine Restitution? Und welche Rolle spielt unser Fach dabei im Verhältnis zu Politik und Gesellschaft? Wie steht es aktuell um unsere Interessen an den Dingen?